Fachschaft Philosophie
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Kurse der Sommerakademie 2012

Eve-Marie Engels: Die Bedeutung der Evolutionstheorie für Fragen der Theoretischen und Praktischen Philosophie

Unser heutiges Verständnis von der Evolution der Organismen ist untrennbar mit dem Werk von Charles Darwin (1809–1882) verknüpft. Darwin wollte jenes „Geheimnis der Geheimnisse“ lüften, „wie es von einem unserer größten Philosophen genannt worden ist.“ Er legte den Grundstein für eine naturwissenschaftliche Erklärung der Entstehung von Arten und Anpassungen, von Zweckmäßigkeit in der belebten Natur. Hierfür entwickelte er eine Theorie, die ohne die Annahme spezieller Zweckursachen auskommt, sei es im Sinne der aristotelischen Naturteleologie oder der späteren christlichen Physikotheologie. Mit seinem Werk Die Entstehung der Arten (Origin of Species, 1859) löste Darwin nicht nur in der Biologie, sondern auch in deren philosophischen Grundlagen eine Revolution aus, die bereits von vielen seiner Zeitgenossen anerkannt wurde. Sie verglichen ihn mit den großen Denkern der Astronomie und Physik, mit Kopernikus, Galilei und Newton. Hatte Kant noch die Möglichkeit eines „Newton des Grashalms“, wie es in der Rezeption griffig formuliert wurde, bestritten, so galt nun Darwin als „dieser unmögliche Newton“ (Haeckel), als „Newton der Naturgeschichte“ (Wallace). Darwins Revolution betrifft jedoch nicht nur die Biologie, sondern sie hat auch Konsequenzen für Philosophie, Geistes- und Humanwissenschaften. Wie Darwin in seinem Werk Die Abstammung des Menschen (Descent of Man, 1871) ausführt, gehört auch der Mensch einschließlich seiner kognitiven, sozialen und moralischen Fähigkeiten zum Anwendungsbereich seiner Theorie. Naturwissenschaft und Philosophie sind für Darwin jedoch keine Gegensätze. Vielmehr bringt er sie miteinander ins Gespräch, indem er sich in seiner biologischen Theoriebildung von der Philosophie ansprechen und inspirieren lässt und umgekehrt die Fragen und Positionen der Philosophie im Rahmen seines evolutionären Naturalismus neu zu deuten, zu beantworten oder zurückzuweisen sucht. Darwin ist jedoch kein reduktionistischer, sondern im positiven Sinne ein interdisziplinärer Denker, was sich in ganz verschiedenen Kontexten zeigt, in seiner Wissenschafts- und Erkenntnistheorie, in Anthropologie und Ethik und anderen Disziplinen. Sie müssen sich Darwins Herausforderungen stellen und seine Theorie auf ihre Implikationen für die Philosophie hin befragen.

Seit dem 19. Jahrhundert wurde die Evolutionstheorie im Lichte neuer empirischer und theoretischer Erkenntnisse fortwährend erweitert und überarbeitet. Es entstanden auch neue interdisziplinäre Ansätze wie die Evolutionäre Erkenntnistheorie, die Evolutionäre Ethik und die Soziobiologie, die in ihrem Fokus und in ihren Ansprüchen zum Teil weitaus reduktionistischer als Darwin vorgehen und im Unterschied zu Darwin die Existenz einer nicht auf biologische Funktionen reduzierbaren genuinen Moral meist bestreiten. Andererseits inspiriert uns die Evolutionstheorie mit ihrer Annahme eines verwandtschaftlichen Zusammenhangs von Menschen, Tieren und Pflanzen auch zu einer neuen Reflexion über das Verhältnis des Menschen zur übrigen belebten Natur, die möglicherweise für die Natur- und Tierethik fruchtbar gemacht werden kann. Diese Themen und Fragen sollen im Kurs über Evolution bearbeitet werden.

Andrea Esser: Kants Kritik teleologischer Urteile und die moderne Biologie

Kants „Kritik der teleologischen Urteilskraft“ reflektiert die philosophischen, insbesondere methodischen Probleme, die mit der Entwicklung einer eigenständigen Wissenschaft vom Leben, der Biologie, verbunden sind. Die Frage, ob sich die wissenschaftliche Erklärung des Organismus von Erklärungen der Physik und Chemie unterscheiden müsse, ist dabei keine Frage, die von der Philosophie gleichsam von der Außenperspektive an die Biologie herangetragen wurde. Sie entsteht vielmehr innerhalb des Grundlagenstreits der Biologie zwischen Autoren, die das Leben auf physisch-chemische Prozesse reduzieren und solchen, die eine solche Reduktion für ausgeschlossen halten.

Der besondere Reiz der Kantischen Überlegungen zur Teleologie in der „Kritik der Urteilskraft“ liegt darin, dass Kant zwar einerseits die fachwissenschaftliche Diskussion seiner Zeit aufnimmt. Er spielt in vielfältigen Beispielen auf zeitgenössische Debatten an (was dazu zwingt, den Text aus seinem historischen Kontext heraus zu erschließen). Andererseits aber versucht er die zentralen Begriffe und Prinzipien der Fachdiskussion im transzendentalphilosophischen Sinne „kritisch“ zu fundieren. Die Teleologie der „Kritik der Urteilskraft“ verfolgt damit auch ein wissenschaftstheoretisches Interesse, und zielt darauf, die Besonderheit unserer Erklärungsweise des Organismus sowie den Begriff der Zweckmäßigkeit des Organismus herauszustellen.

Die transzendentalphilosophische Kritik kann auch für die heutige Diskussion immer noch einen wichtigen, insbesondere einen kritischen Beitrag leisten. Sie bezieht sich allerdings auf die vordarwinistische Wissenschaft vom Leben; daher muss man sich freilich fragen, welche ihrer Einsichten auch noch unter den Bedingungen eines veränderten Evolutionsbegriffs haltbar sind bzw. immer noch eine kritische Wirkung entfalten können.

Die zentralen Gedanken von Kants „Kritik der teleologischen Urteilskraft“ sollen vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Diskussionen (Präformationstheorie vs. Theorie der Epigenesis) in intensiver Lektüre erschlossen und dann systematisch mit dem Lebensbegriff der gegenwärtigen Biologie konfrontiert und diskutiert werden.

Mariska Leunissen: Aristotle’s biological teleology: ancient perspectives, modern relevance?

In this course we will use Aristotle’s teleology as a test case for generating debates about the nature, status, and relevance of teleology for contemporary biology and ethics. Our meetings will be centered on the following three issues:
(1) Ancient and modern defenses of biological teleology

In this section we will study the arguments that have been offered for and against teleological views of the world, while paying close attention to any parallels that may exist between the ancient and the modern debates. For instance, the ancient debate between Aristotle, who defends a full-fledged natural teleology in his famous ‘rainfall argument’ in Physics II 8, Empedocles (a materialist who appears to have defended a kind of ‘survival of the fittest’-theory avant la lettre), and, indirectly, Socrates (who, at least according to Xenophon, offered one of the oldest teleological arguments for the existence of God) bears some striking similarities with current debates among evolutionary biologists about the role of teleology (should it be endorsed, used only as metaphor, or rather be reduced entirely to descriptions proper to other scientific domains, such as cybernetics?) as well as with debates between evolutionary biologists and defenders of Creationism or Intelligent Design. Our main purposes will be to identify the extent to which teleological theories can offer a plausible – or, perhaps, even: a necessary – scientific understanding of the biological world.
(2) The role of natural teleology and the metaphor of animal design in biology

In this section we will study the three central features of Aristotle’s biological teleology, namely (a) its division into two distinct causal processes, which I have called ‘primary’ versus ‘secondary’ teleology; (b) its heuristic use of teleological principles for the discovery of causes; (c) and its refusal to use final causes as the middle terms in teleological demonstrations. Concurrently, we will evaluate from a contemporary scientific perspective both the problems of each of these three features, such as the charges of panglossianism or of vitalism that are often brought against Aristotle, and their relevance for contemporary practices in biology, such as for the need to acknowledge the existence of ‘spandrels’ or for the practice of ‘reversed engineering’ in the identification of what biological features are for.
(3) Eudaimonistic teleologies: the implications of Aristotelian teleology for ethics

In this final section, we will look at the implications Aristotelian-informed teleological perspectives on the world and (human) nature might have for our understanding of human morality. We will first study Aristotle’s famous ‘human function’ argument (according to which human happiness lies in the activity of the rational part of the soul in accordance with excellence), its biological suppositions, its relation to Aristotle’s statement that humans are by nature political animals, and its implications for Aristotle’s moral theory in general and for the moral status of women and natural slaves in particular. We will then look at its reception by some prominent thinkers in recent eudaemonist virtue ethics (such as defended by, e.g., Hursthouse and Foot) and by Nussbaum’s famous capabilities approach.


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